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Restaurantkritik  5.Oktober 2016

BERLIN AM MEER

Fünf neue Sternerestaurants für Berlin: 2016 war das Jahr der Hauptstadt-Newcomer. Bei einigen liebäugelte man schon vorab mit dem Macaron (Nobelhart & Schmutzig), für andere kam die Auszeichnung völlig überraschend. So hatte wohl kaum einer das kleine, unscheinbare "Bandol sur mer" inmitten der nimmermüden Torstraße auf dem Zettel, das hier seit nunmehr neun Jahren die französische Stellung hält. Dieses Durchhaltevermögen wurde nun belohnt; Grund genug, uns den neuen Stern am Firmament genauer anzuschauen!

Äußerlich schreit hier nichts nach Spitzengastronomie, es sieht eher aus wie in einem Imbiss. Das kommt nicht von ungefähr, war das Lokal doch früher mal ein Dönerladen, nämlich der erste in Ostberlin. Eine für den Berliner vertraute Umgebung: links die Theke zur Bestellung, rechts ein paar Holztische, an der Wand Schiefertafeln mit den Gerichten. Dieses Understatement scheint typisch für die Hauptstadt, in der prämierte Restaurants bewusst auf rote, runde Aufkleber auf der Tür verzichten. Besonders draußen, an den wackeligen Holztischen, fühlen wir uns durch den unüberhörbaren Straßenlärm und lauthals vorbeiziehenden Touristengruppen eher wie vor einer angesagten Szenekneipe. Uns gefällt diese lockere Ungezwungenheit, die wir in einem Sternerestaurant in Deutschland so noch nicht erlebt haben und die uns sofort an die von den Franzosen heißgeliebte "Terrasse" erinnert, auf der man sich mit Sommerluft und einer Flasche Wein vor dem Lokal in den Abend wiegt. Wir können allerdings nachvollziehen, dass die Erwartungshaltung des einen oder anderen (vielleicht wegen des Michelin angereisten) Gastes durch die legere Präsentation gebrochen wird.

Das Küchenkonzept des gebürtigen Berliners Andreas Saul, der bis 2010 als Souschef der "Weinbar Rutz" wirkte, bevor ihn Jean Cohen in sein Lokal holte, setzt auf frische und saisonale Zutaten: Drei Gärten werden vom Restaurant selbst betrieben, Fisch und Wild kommen vom eigenen Fischer und Jäger. Die Gerichte verteilen sich auf zwei Menüs; das eine mehr Fisch, das andere mehr Fleisch. Das klingt vielversprechend, weshalb wir es uns nicht nehmen lassen, das ganze Programm zu probieren – und da kommt auch schon der erste Gruß: Die Chips mit Anchovis-Mayonnaise, BBQ-Tomate, Tomatensalz und Kopfsalat glänzen durch deftige Umami-Aromen, haben einen saftigen Biss, und der Salat liefert Frische. Ein guter Start.

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Ein Amuse-Gewitter bleibt heute aus, stattdessen steigen wir umgehend ins Menü ein. Die pochierte Gänsestopfleber mit Seegras, roter Bete und Rhabarber gefällt uns immer besser, je länger wir uns mit dem Teller beschäftigen: die stetige Präsenz der weichen Leber, das Hin und Her zwischen erdiger Bete und säuerlichem Rhabarber – ein schönes Gericht.

Im Fischmenü starten wir mit Flussbarsch und Escabeche-Crème mit Petersilie, Senfsaat und Kernmus. Der Fisch ist nur leicht gebeizt, anschließend geflämmt und geschmacklich eher dezent. Das bietet den anderen Komponenten genügend Platz zur Entfaltung. Besonders das Zusammenspiel aus der dreifach zerlegten Petersilie (Crème, Pulver und Salat) sowie der säuerlichen Escabeche-Crème zeugen von durchdachter Portionierung, für den neutralisierenden Biss sorgen Leinsamenchips. Fein.

Bunt und suppig geht es mit Essenz vom Felsenoktopus mit Schweinskopf, Sepia und Avocado weiter. Das Meerestier ist von exzellenter, intensiver Qualität und passt prima zur cremigen Avocado und dem herrlich deftigen Schweinskopf-Ragout, das sich im Dumpling versteckt. Nur: Die angegossene Brühe ist derart salzig und überwürzt, dass wir davon nach einem Löffel ablassen – wir bekommen sie schlichtweg nicht runter. Grund ist, dass alle Oktopoden im gleichen Suppenansatz gekocht werden – und hier war es wohl einer zu viel. Schade. Die Küche ist unserer Meinung und räumt den Fehler ein (bei einem zweiten Besuch einige Wochen später war das Problem übrigens behoben).

Wir bleiben im Wasser: Dem gebeizten Stör mit Lardo vom Wollschwein und eingelegter Gurke, Eiszapfen sowie Senfkohl wird ein heißer Speck-Dashi-Sud angegossen, der perfekt zum präsenten Eigengeschmack des Fisches passt. Mehr noch, durch die gemüsigen Beilagen macht sich ein intensives Schmorgurken-Feeling breit, jeder Löffel schmeckt absolut stimmig und rund. Wir fühlen uns an Omas Esstisch zurückversetzt – unerwartet gut.

Etwas klassischer fällt der nächste Gang aus: Lammbries und Langustine mit Bärlauch und Kohlrabi kombiniert erneut Wiese, Erde und Wasser. Und wieder sind die Produkte von Top-Qualität, besonders das Bries bringt eine schmelzige Wucht mit. Die Brücke zwischen den beiden Protagonisten schaffen eine milde, dennoch omnipräsente Bärlauch-Miso-Crème sowie die Krustentier-Mayonnaise. Etwas Röstaromen und Bitterstoffe liefert der gegrillte Bärlauch obenauf. Das ist zusammengenommen hervorragend.

Vegetarisch geht es mit Frühkarotten mit grünem Spargel und Sauerampfer weiter. Hier ist die Balance aus Biss und Cremigkeit der Schlüssel zum Erfolg: Die buttrigen Möhren bringen süßliche Akzente, immer umspielt vom intensiven Spargel-Sud und der bitteren Fichtennadel-Mayonnaise. Ein kerniger, von Bitterstoffen, Süße und Erdigkeit geprägter, köstlicher Teller.

Als Hauptgang des Fleisch-Menüs gibt sich die gepökelte Étouffée-Entenbrust mit Brennnessel, Gatower Kugel (eine Rübenart, benannt nach einem Bezirk in Berlin-Spandau) und gezupfter Entenkeule. Eine gepökelte Blutente, von einem lokalen Betrieb in Straßburg angeliefert, hatten wir vorher noch nie auf dem Tisch, kennen wir diese Garmethode doch eher vom hauptstädtischen Eisbein. Doch das schmeckt, denn mit jedem Bissen des Fleisches schwingt eine subtile, die Fasern durchziehende Salzigkeit mit. Zudem lassen alle anderen Komponenten dem Wild genug Platz zu glänzen: der leichte Rübensalat, der süffige Enten-Jus, das geriebene, geräucherte Kalbsherz – alles starke Einzelgänger, die den Wildgeschmack hier in Summe jedoch eher unterstreichen, als ihn zu überdecken. Da gibt es nichts zu meckern.    

Ein ordentliches Pfund Adlerfisch mit weißem Spargel, Kirschtomaten und Cornichons ist die Hauptspeise des Fisch-Menüs. Der Garpunkt des gebratenen Fisches ist einmal mehr über jeden Zweifel erhaben, außen fest, innen glasig. Der französische Einschlag ist spätestens beim angegossenen Bouillabaisse-Sud, zu dem sich eine Vielzahl anderer Crèmes, Saucen, Chips und Sugos gesellen, unverkennbar. Doch trotz des Komponenten-Spektrums schmeckt der Teller zu keiner Zeit erschlagend. Viel eher erleben wir hier ein homogenes Zusammenspiel aller Komponenten, die bei richtiger Portionierung – die wir bei den vielen Elementen erst mal finden müssen – ein ausgeglichenes, sehr „meeriges“ Geschmacksbild liefern. Ein komplexes, dabei gelungenes Gericht.

Beim ersten Dessert, Rhabarber mit Weizengras-Granité, belgischer Schokolade und weißem Tee-Eis, geht die Küche dann leider etwas zu weit mit der Zerlegung in seine Einzelteile. Zwar sehr schön anzusehen, verliert sich der texturverliebte Berg (als Pudding, eingelegt, dehydriert, als Crunch, dazu Eis, Granité und ein Salat) in einer wirren, süß-sauren Beliebigkeit.

Ebenfalls sehr „creme-tupferig“ dann Akazienblüte und Honigmelone mit Schokolade. Das klingt in der Kombination erst mal ansprechend, doch kommt das Rhabarber-Komplexitäts-Problem hier genau umgekehrt zu tragen: Trotz der Baisers, Schäume, Eise und Crèmes schmeckt es insgesamt doch recht eindimensional (hauptsächlich) nach Schokolade.

Es kommt selten vor, aber: Das „Bandol sur mer“ hat uns überrumpelt! Das wollen wir absolut positiv verstanden wissen, den es sind unerwartete Überraschungen wie diese, solch kleine Perlen abseits der großen Fische, die das Fressen für uns so spannend und aufregend machen. Das schummerige Lokal an der lärmenden Straße ist eine Wonne inmitten der überhipsterten Gastroszene Berlins, allürenfrei und leger. Das Bandol repräsentiert damit gewissermaßen das Leitbild der neuen, ungezwungenen Esskultur der Hauptstadt (dem Feeling der Cordobar nicht unähnlich), die wir so eigentlich eher von lässigen Brasserien in Paris oder Bar-Restaurants in New York kennen. Bis auf die Desserts (und den salzigen Pulpo-Fond) haben uns die Gerichte hervorragend geschmeckt, wirkten fokussiert und austariert. Und das mit nur zwei Männern in einer kleinen, offenen Küche. Bei den Nachspeisen fehlt noch das Spiel aus Einfallsreichtum und Balance, die uns an den (zum Teil komplexen) Gängen zuvor gefallen hat. Werden die Stellschrauben hier in gleicher Manier verändert, geloben wir diesem kleinen Lokal vollste Fresser-Treue.

Der Service (Johanna Richter, hier mit Blumen im Haar, rechts daneben der zweite Mann am Herd, Michel Pickers) ist überaus fröhlich, aber auch keck, was uns besonders bei den US-Snobs am Nachbartisch gefiel – eine kleine Spur Wahnsinn passt hervorragend zu dem Lokal. Jean Cohen, Mann für alles (Besitzer, Patron, Maître, Sommelier, hier ganz links im Bild neben Koch Andreas Saul), bot uns zum Verspeisten eine stimmige Weinbegleitung, die geprägt war von Klassikern und einigen interessanten Sonderlingen.

Fazit

Ungezwungen, überraschend und köstlich: Einen Franzosen wie das „Bandol sur mer“ wünschen wir uns in jeder großen deutschen Stadt.

Weine

Weinauswahl im Restaurant Bandol sur mer in Berlin

Fragen an den Suffmeister (a.k.a. Sommelier) Jean Cohen

Anzahl der Positionen?
Circa 60 Rot- und Weißweine, 10 Champagner sowie 10 weitere Positionen für die Weinbegleitung, die nicht in der Karte stehen, diese aber irgendwann ersetzen und die Weinauswahl spannender gestalten sollen.

Haben Sie einen besonderen Fokus bezüglich der Weinkarte?
Der Fokus liegt bei französischen Weinen und im Speziellen bei Naturweinen, da diese von ihrer Stilistik gut zur Küche passen.

Welche ist Ihre preiswerteste/teuerste Flasche?
Preiswerteste: Sauvignon Blanc "Saint Bris" aus dem Burgund für 30,00 €
Teuerste: Chateau Palmer 2004 Margaux für 290,00 €

Ihr Lieblingswein? Weshalb?
Harusame ist ein Schaumwein aus Norditalien, der auf natürliche Weise nach Methode „tradicionelle“ hergestellt wird, ungefiltert und ungeschwefelt (vin naturel halt). Ich liebe dieses Zeug und hab leider alles was ich hatte fast selber ausgetrunken und bekomme erst nächsten Monat wieder neuen. Das ist 100 % Pinot Noir. Harusame ist japanisch und bedeutet „verregneter Frühling“ in Anspielung auf die trübe Farbe.

Der ausgefallenste (vinophile) Gästewunsch, mit dem Sie konfrontiert wurden?
"Vinophil" ausgefallene wünsche hatte ich in diesem Sinne noch keine, aber aus der Abteilung "Vinophob": Ich hatte die Bitte nach einer Empfehlung, welchen Rotwein man am besten mit Cola mischen kann. Der Klassiker.

Hinweis

Unser Besuch wurde vom Restaurant unterstützt. Details zum Umgang mit Pressekonditionen findet Ihr hier.

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